Geschichte/
 Erinnerungen
  1945 (Zöllick)
  Brinckmansdorf
bis 1932 (Flick)
  Brinckmansdorf
ab 1933 (Flick)
  Brinckmansdorf 1921-80 (Henneberg)
  Flakzug Kassebohm
  Im Einsiedler
  Kaffee-Reimer
  KIB Nord Rostock
  Wilhelm Klöcking
  Leben im Roggentiner Weg (Lemke)
  Neuanfang (Naedler)
  Wilhelm Scheel -
Mein Leben
  Schule 1945-56
Zwangsarbeiterlager
zum Vergrößern klickenLage des Zwangsarbeiterlagers
zum Vergrößern klickenLage des Zwangsarbeiterlagers auf einem Luftbild von 1944 (Beschaffungsquelle: Luftbilddatenbank Dr. Carls GmbH)
Das Zwangsarbeiterlager in Brinckmansdorf 1942-45
Thomas Werner, Jürgen Voß, Peter Garbe und Berth Brinkmann

Während der NS-Zeit waren Tausende ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene in Rostock. Allein in den Ernst Heinkel Flugzeugwerken waren 1942 Arbeiter aus 14 Nationen im Einsatz. Aus einigen Ländern kamen freiwillige Zivilarbeiter, z.B. aus Dänemark. In der Mehrzahl waren die Zivilarbeiter jedoch Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen.  Eingesetzt wurden die Arbeiter und Kriegsgefangenen in den Rüstungsbetrieben wie den Ernst Heinkel Flugzeugwerken, den Arado Flugzeugwerken und der Neptunwerft, aber auch in kriegswichtigen Betrieben wie dem Reichsbahnausbesserungswerk oder bei Baufirmen. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug bis zu 72 Stunden. Ende 1943 waren ca. 20.000 Ausländer in Rostock tätig, davon mehr als 8.300 bei Heinkel und 1.300 auf der Neptunwerft. Untergebracht waren die Zwangsarbeiter in umgenutzten Beherbergungsbetrieben, in Gebäuden (häufig Baracken) auf dem bzw. nahe des Einsatzortes und in Barackenlagern am Stadtrand. Die größten Lager befanden sich in Dierkow, Biestow, Evershagen und an der Thierfelderstraße. Die Lebensbedingungen der Arbeiter wurden durch zahlreiche Restriktionen eingeschränkt. So war der Zutritt zu bombensicheren Bunkern in den Betrieben den Arbeitern oft verwehrt.  Ab 1943 galt für sowjetische Zwangsarbeiter ein Aufenthaltszwang am Arbeits- oder Unterbringungsort. Die beiden größten Probleme waren aber unzureichende Hygiene und der Nahrungsmangel.
Thomas Werner
Lit.: M. Buddrus Ausländische Arbeitskräfte in Mecklenburg 1943/1944. Zahlen, Orte, Firmen. Eine kommentierte Dokumentation. in: Zeitgeschichte regional. Heft 1, 2006
Dr. F. Stamp, Zwangsarbeit in der Metallindustrie 1939 – 1945. Das Beispiel Mecklenburg-Vorpommern. November 2001


Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde Rostock zu einem Zentrum der Luftfahrtindustrie. Von 1933 bis 1939 stieg die Zahl der Arbeiter in den Heinkel-Werken von 1.000 auf 9.000. Mit Kriegsbeginn kam es durch die Einberufung zur Armee zu einem Mangel an Arbeitskräften, der durch deutsche Frauen und ausländische Zwangsarbeiter behoben wurde. Die Zwangsarbeiter wurden in großen Barackenlagern untergebracht. Solche Lager gab es in Biestow (30 Baracken), Evershagen (20 Baracken), in Dierkow (für 500 Arbeiter) und an der Thierfelder Straße ( 40.000 m²). Auch im "Sportpalast"waren "Ostarbeiter" untergebracht. Zusätzlich wurden in der näheren Umgebung Lager eingerichtet (in Dalwitzhof, am Braesigweg und in Warnemünde). Außerdem wurden in den Heinkel-Werken Kriegsgefangene eingesetzt, die in Lagern in Markgrafenheide und in der Nähe der Neptunwerft untergebracht waren. 1942/43 wurde in Brinckmansdorf, östlich der Straße Höger-Up, ein Barackenlager für 600 Arbeiter aus Osteuropa errichtet.

Berth Brinkmann
Quelle: Rostock unter’m Hakenkreuz

Im Oktober 2007 weilte auf Einladung der Hansestadt Rostock und der Geschichtswerkstatt der ehemalige Zwangsarbeiter Grigorij Serdjuk aus der Ukraine in Rostock. Auf Initiative des Kulturamtes interviewte Natalja Jeske ihn.
Vollständiges Interview: Das-ist-Rostock.de
Mit freundlicher Genehmigung des Kulturamtes (Thomas Werner) im Folgenden eine gekürzte Fassung mit Bezug auf Brinckmansdorf.

Interview mit Grigorij Serdjuk am 16. Oktober 2007

G.S. = Grigorij Serdjuk
N.J. = Natalja Jeske

N.J. ... Grigorij Iwanowitsch, ich möchte Sie bitten, von Anfang an zu beginnen und zu erzählen, wo, wann und in welcher Familie Sie geboren wurden.
G.S. Ich wurde am 11. März 1924 im Dorf Alexejewka im Kreis Grebjonka, Gebiet Poltawa, in der Ukraine geboren. Meine Familie arbeitete in der Landwirtschaft. Ich hatte Mutter und Vater, sie arbeiteten in der Kolchose. Die Mutter führte dort verschiedene Arbeiten aus, der Vater war Schmied. [...]
   
N.J. Welche Erinnerungen haben Sie an die Okkupation, wie begann sie?
G.S. Wissen Sie, damals war es so: als die Deutschen einmarschierten ... da standen wir an der Dorfstraße, an unserem Tor – Mutter, Vater und ich.
Die Deutschen fuhren alle mit Autos durch die Straße, und an den Seiten fuhren die Motorradfahrer. Die Deutschen waren sehr distanziert, sie sagten nichts. Sie fuhren durch und das war’s. Am nächsten Tag, am nächsten Tag kamen schon neue Truppen, sie gingen nach Osten. So war’s. Dann ... Ich lebte zu Hause bis zum 20. Juli 1941 [1942, G.S. verspricht sich]. Damals wurde eine sehr intensive Propaganda geführt, damit die Jugendlichen nach Deutschland fahren. Überall wurden Fotos aufgehängt, es wurden Fotoausstellungen organisiert, um zu zeigen, wie schön es hier sei. Es war in der Tat schön, aber nicht für uns. Anfangs sind tatsächlich welche gefahren, aber es hielt nicht lange – und nachdem man erfahren hat, wie man hier tatsächlich lebt, gab es keine Freiwilligen mehr. Es begannen die Zwangsverschleppungen nach Deutschland. Am 22. Juli kam unser Dorfpolizist zu mir: Du musst morgen nach Deutschland fahren. Ich habe zu ihm nichts gesagt, denn ich wusste, dass jeglicher Widerstand sinnlos war. So wurden wir 3 Personen aus unserem Dorf zur Bahnstation Grebjonka gebracht. Wir übernachteten dort und am späten Abend des 22. Juli [23. Juli - ?] wurden wir in Güterwaggons verladen und nach Deutschland abtransportiert. Wir fuhren nach Deutschland über Tschernigow, Grodno, Litauen und Ostpreußen. Nach 6 Tagen kamen wir in Rostock an. Wir kamen in Rostock an. In Rostock am Bahnhof wurden wir von einer kleinen Gruppe Deutscher – etwa 30 oder 40 Personen – in Empfang genommen. Sie alle wirkten distanziert und haben uns unfreundlich empfangen. Wahrscheinlich standen sie unter dem Propagandaeinfluss und meinten, dass wir Vertreter eines feindlichen Landes sind – deshalb gab es einen solchen Empfang. [...]
   
N.J. Und was hatten Sie mitgenommen?
G.S. Ich hatte von Zuhause ein Stück Speck, zwei Brotlaibe und noch irgendetwas in der Art, dann noch eine Flasche Milch. Für 6 Tage hat es natürlich gereicht. Und dann ...Wir wurden zu viert auf dem
Bahnhofsvorplatz aufgestellt und [von dort] zum Lager Brinckmannsdorf geführt. Brinckmannsdorf ... Natürlich zu Fuß. An beiden Seiten unserer Kolonne gingen Polizisten mit Hunden.
Wir wurden zum Lager geführt und gingen dort rein. Das Lager war ganz neu, noch unbewohnt, die Baracken waren neu, alles war neu. Die Baracken waren – wissen Sie – mit solchen Wänden – die Wände waren so dünn, wie bei den Finnhütten. Wir wurden auf diese [Baracken] verteilt. In unserem Transport waren 800 Personen, 800 Personen. Wir wurden auf die Baracken verteilt – in einem Raum wurden 24 Personen, 24 Personen untergebracht. Die Betten waren zweistöckig, die Betten waren zweistöckig. Wir haben auch die Betten bekommen: eine Papiermatratze und ein Papierkissen, wissen Sie, das war "Ersatz". Sie waren mit Holzspänen – mit Holzspänen – gefüllt. Am nächsten Tag wurden wir im Lager aufgestellt - auf einer Straße, dort gab es eine Allee - und man hat begonnen, uns auf die Werkhallen zum Arbeiten zu Verteilen.
N.J. Und wer hat sie auf die Werkhallen verteilt?
G.S. Ich kann mich nicht genau erinnern – dort waren irgendwelche Deutschen – Vertreter des Heinkel-Werkes und wahrscheinlich auch Vertreter der Stadtverwaltung. Es gab auch Bauern, die ihre Leute raussuchten.
Die Deutschen sind – wissen sie – praktisch veranlagt – sie haben unter uns 30 oder 40 Personen mit 10-Klassen-Schulbildung rausgesucht und haben uns in die Bleicherstraße geschickt. Dort gab es Ber... eine Berufsschule – wie ist es auf Deutsch ... man hat dort einen Beruf gelernt. Dort wurden wir 4 Monate lang ausgebildet. Vier Monate lang wurden wir dort ausgebildet. Nach vier Monaten ...
N.J. Wann begann diese Ausbildung nach ihrer Ankunft? Sie wurden ins Lager gebracht ...
G.S. Am dritten oder am vierten Tag. Am dritten oder am vierten Tag. Nach vier Monaten wurden wir dann auf die Werkhallen verteilt – einige kamen in die Werftstraße und einige nach Marienehe, ja. Einige kamen nach Marienehe, und die anderen kamen in die Werftstraße – Werftstraße und Marienehe. Und dort wurden wir direkt zur Arbeit eingeteilt.
N.J. Und was wurde Ihnen in diesen 4 Monaten beigebracht?
G.S. Hauptsächlich war es eine Schlosserausbildung, damit wir in der Lage wären, verschiedene Teile herzustellen, zum Beispiel Flugzeugteile aus Duralmin. Es wurde uns beigebracht, wie man sie bearbeitet, damit alles genau passt, damit das Teil richtig sitzt – so etwas wurde uns beigebracht. In der Werftstraße kam ich dorthin, wo man Flugzeugrümpfe herstellte. Zunächst kam ich dahin. In der Werftstraße stellte man Flugzeugrümpfe und Tragflächen her – Tragflächen für das Flugzeug Heinkel 111. Die Flugzeugrümpfe und Tragflächen wurden auf speziellen Anhängern nach Marienehe gebracht. Dort in der Werkhalle 64 wurden sie zusammenmontiert und aus dieser Halle kamen fertige Flugzeuge heraus. So war es.
Zur Arbeit... Wir mussten aufstehen, so begann unser Lagerleben. Wir mussten um 4 Uhr aufstehen, man hatte 20 oder vielleicht 30 Minuten um die Morgentoilette zu erledigen, sich zu waschen und so weiter. 40 Minuten hatten wir für die Kantine, wo das Essen ausgeteilt wurde – die Deutschen nannten es "Suppe", aber es war keine Suppe. Das war ... wissen Sie ...wir nannten sie "Balanda" (Dünne Gefängnis- bzw. Lagersuppe) , weil sie nur aus Wasser mit einigen Rübenstückchen und einigen Hirsekörnern bestand. Mehr war nicht drin. Man bekam je zwei Liter dieser Suppe. Nachdem wir gegessen haben, hatten wir 20 Minuten für die Aufstellung. Der Fußmarsch in die Werftstraße dauerte eine halbe Stunde.
N.J. Eine halbe Stunde?!
G.S. Es waren etwa anderthalb, vielleicht auch zwei Kilometer. Vielleicht waren es 40 Minuten, aber wir schafften es. Um 6 Uhr morgens standen wir schon an unseren Arbeitsplätzen, um 6 Uhr morgens begann die Arbeit. Sie dauerte in der Werkhalle bis um 6 Uhr abends. Es gab natürlich eine Mittagspause. Zu Mittag brachte man uns die gleiche Suppe aus dem Lager, aus der Lagerkantine. Sie war in den Thermoskannen, es gab dafür ein spezielles Auto. Der Fahrer war ein Deutscher, er war, wahrscheinlich, ein Invalide – einer, der nicht mehr an der Front zu gebrauchen war. Er wurde also hier eingesetzt und belieferte uns regelmäßig. Wir bekamen ein Laib Brot für 4 Personen, ein Laib war 1 Kilo schwer, das heißt, man bekam 250 g Brot. 250 g Brot gab es nur abends, nach der Rückkehr von der Arbeit. Man bekam 250 g Brot und 20 g Zucker. Für eine Woche, für 6 Tage bekam man auch 100 g Margarine.
N.J. Wie bewahrten Sie diese Margarine auf, in welcher Form wurde diese Margarine ausgegeben?
G.S. Wir haben sie so aufbewahrt: wir bekamen Brot, bekamen Zucker, bekamen Margarine – die 100 g Margarine, Zucker und Brot – und aßen alles sofort auf. Zum Aufbewahren blieb nichts übrig. So war das. Das alles wurde abends aufgegessen und am nächsten Morgen ging man wieder in die Kantine und bekam die gleiche Suppe. So.
Ja, auf der Arbeit haben wir Arbeitskittel bekommen, solche dunkelblauen Arbeitskittel. Wir haben gleich am Anfang die Zeichen "Ost" bekommen – es wurde hier aufgenäht [zeigt] – auf dem blauen Hintergrund standen die weißen Buchstaben "OST".
N.J. Wurden sie im Werk oder im Lager verteilt?
G.S. Ja, sie wurden im Lager, im Lager verteilt. Das Zeichen sah so aus: 10 cm mal 10 cm, also groß, man konnte aus einem halben Kilometer Entfernung sehen, dass da ein Ostarbeiter kommt. Man bekam auch ein gelbes Zeichen in Herzensform – es stand der Buchstabe "R", der Buchstabe "R", darauf, es sollte auf der anderen Seite angebracht werden, man musste es hier tragen [zeigt]. Es wurde mit einer Nadel befestigt. Es war Pflicht, diese Zeichen zu tragen. Ohne diese Zeichen durfte man sich weder in der Stadt, noch auf der Arbeit, noch sonst wo blicken lassen.
Nun, in diesem Lager, im Lager Brinckmannsdorf habe ich anderthalb Jahre gelebt.
N.J. Das heißt, etwa bis Ende 1943?
G.S. Ja, so ungefähr. Ich habe dort anderthalb Jahre gelebt. Und dann... Ich weiß nicht, was die Deutschen dazu bewogen hat, ob das die deutsche Kommandantur entschieden hat oder die Stadtverwaltung – man hat einige von uns – nicht alle, sondern nur einen Teil – etwa 150 Mann – von Brinkmannsdorf in den "Sportpalast" verlegt. [...]

... Als wir [im Lager] ankamen, waren die Baracken ganz neu, dort wohnte noch keiner. Als wir dort ankamen ... Vor uns kamen noch 1000 Charkower Arbeiter an...
N.J. Und wo wurden diese untergebracht?
G.S. Sie wohnten bereits in den Baracken, einige Baracken waren schon belegt. Und die Baracken, die für uns [vorgesehen] waren, standen noch leer.
N.J. Aber das war im gleichen Lager in Brinckmannsdorf?
G.S. Das war im gleichen Lager in Brinckmannsdorf. Als wir insgesamt 2000 Personen dort einquartiert wurden, gab es dort keine öffentliche Toilette. Am nächsten Tag wurden mit Lastwagen 30 oder 40 Jungs gebracht, das waren Hitlerjungen, so nannte man sie. Sie hatten braune Hemden und schwarze Hosen an, sie hatten Spaten mit. Sie haben die Abortgrube innerhalb von anderthalb Tagen ausgehoben. Sie war 10 Meter breit und 10 Meter tief. Danach wurden Bauarbeiter hertransportiert und sie legten die Grube mit Steinen bzw. mit Ziegelsteinen aus und dann wurde die [Toilette] gebaut. Wissen sie – 2000 Mann – wenn man keine [Toilette] hat – was passiert dann? Es können doch Epidemien ausbrechen. Diese Jungs von 10, 12, 13 Jahren haben für uns also die [Toilette] gebaut. Die ältesten von ihnen waren 14 Jahre alt. Damals galt in Deutschland ein Gesetz – wenn ein Junge 7 Jahre alt wird, soll er aus der Familie genommen werden. Dann bekommt er ein Uniform – Hemd und Hose – und es gilt für ihn eine Kasernenordnung. So einen Gefallen haben sie uns getan, wir selber haben an dieser Arbeit nicht teilgenommen. Und weiter ... Dann ...Was kann man noch sagen?
N.J. In diesem Lager gab es auch eine Kantine ...
G.S. Es gab eine Kantine und sogar ein Theater. Es gab eine spezielle Theaterbaracke, mit einer Bühne, mit einer richtigen Theaterbühne. Es gab einen Saal mit etwa 250 - 300 Sitzplätzen. Und weil aus Charkow auch Schauspieler irgendeines Theaters hierher gebracht wurden ... Sie lebten auch im Lager und haben verschiedene Konzerte, Spiele und so weiter für die Leute im Lager, für die "Ostarbeiter" organisiert. Diese Konzerte besuchten auch Deutsche, das waren Anwohner der mit dem Lager benachbarten Straßen. Ich weiß nicht, ob wir diese Straße [heute] langgefahren sind, wir fuhren doch nur über die Brücke und dann hoch ... Und dort, wo sich das Lager befand, fuhren wir nicht vorbei. Dort war eine Straße mit Wohnhäusern. Und das waren diese Deutschen.
N.J. Sie kamen direkt ins Lager?
G.S. Sie kamen direkt ins Lager, sie wurden am Wachhäuschen problemlos reingelassen und haben mit Vergnügen die Vorführungen besucht.
N.J. Und was für Vorführungen waren das?
G.S. Das waren Theaterstücke, das waren Schauspielstücke ...
N.J. In russischer Sprache?
G.S. Ja, in russischer Sprache. Wir hatten einen Dolmetscher im Lager, er hat hinter den Kulissen übersetzt.
N.J. Waren die Schauspieler dort hauptberuflich eingesetzt?
G.S. Nein, sie waren als Arbeiter tätig und haben sich freiwillig auch als Schauspieler betätigt.
N.J. In ihrer Freizeit?
G.S. Ja, in ihrer Freizeit. Als Schauspieler zu arbeiten – so etwas gab es nicht.
Was noch?
N.J. Ja, was gab es noch besonderes im Lager Brinckmannsdorf?
G.S. Besonderes? Es gab nichts besonderes. Jeden Morgen musste man sich aufstellen. Erst später, nach etwa zwei Monaten, wurde es uns erlaubt, in die Stadt zu gehen. Man durfte in die Stadt in Gruppen von 5 Personen gehen. Einem [aus der Gruppe] wurde aufgetragen, auf diese Gruppe aufzupassen, damit die Leute in der Stadt nicht auseinanderlaufen und in einem Haufen bleiben, damit die Polizisten gut sehen können, wohin diese Gruppe hingeht und was sie tut. Alle trugen die Zeichen "Ost" und "R". In diesen Gruppen durfte man sich sonntags bewegen. Hauptsächlich sonntags – an den Arbeitstagen durften wir nicht raus. Uns wurde eingeschärft, dass wir nicht in die Geschäfte reingehen dürften.
N.J. Und was wurde ihnen noch gesagt? Wie sollten sie sich in der Stadt benehmen?
G.S. Wie sollte man sich in der Stadt benehmen? Hauptsache war, dass man keinen Diebstahl beging. Man sollte sich anständig benehmen: Seht her, wie die Deutschen sich benehmen. Solche Gespräche gab es.
N.J. Gab es da keine weiteren Vorschriften?
G.S. Nein, so etwas gab es nicht.
N.J. Was man darf, was man nicht darf?
G.S. Es wurde gesagt, dass man nicht in die Geschäfte gehen soll, das hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, weil wir doch kein Geld hatten. Wozu sollte man in die Geschäfte gehen, wenn man kein Geld hat, man konnte nichts kaufen. Es blieb nur übrig, durch die Straßen zu spazieren und dann zurück ins Lager zu gehen.
N.J. Und wie sah es mit Freizeit aus? Sie haben gesagt, sonntags ...
G.S. Sonntags ... Ich sage es ihnen so: sonntags haben wir hauptsächlich ausgeschlafen, wir haben ausgeschlafen. Denn [in der Woche] haben wir ganz wenig geschlafen: um 4 Uhr mussten wir schon aufstehen und kamen erst um 10 Uhr abends von Marienehe mit dem Zug ins Lager zurück. Dann holten wir "Balanda" und gegen 11, halb 12 abends ging es ab ins Bett. Und am nächsten Tag musste man wieder um 4 Uhr aufstehen. Für einen jungen Menschen von 18, 19 Jahren ist es völlig unzureichend. Und so ging es die ganze Woche. Wir haben dann den ganzen Tag ausgeschlafen. Wir hatten in unserem Zimmer einen Jungen aus dem Gebiet Winniza, er hatte 10 Klassen Schulbildung und arbeitete auf dem Fliegerhorst in Mariehenehe, er hatte mit Piloten zu tun, er holte Schmierstoffe für die Flugzeuge, tankte sie auf und so weiter – solche Arbeiten führte er dort aus, verschiedene Hilfsarbeiten eben. Die Piloten verpflegten ihn mit, er aß in ihrer Kantine und brachte das Essen oft mit nach Hause – gute Nudelsuppe im Essnapf oder andere dicke Suppen. Oft brachte er auch Zeitung ins Lager mit. Er konnte schon gut Deutsch und diese Zeitung – "Völkischer Beobachter" – bekam er von den Piloten, so eine Zeitung gab es damals, das war eine Parteizeitung. Ich sage ihnen – die Zeitung war sehr wahrheitsgetreu. Natürlich war auch Propaganda drin, aber dort wurden jeden Tag Informationen über die Lage an der Ostfront veröffentlicht. Und das wurde wahrheitsgetreu geschildert: "vorgesehener Rückzug", "vorgesehene Aufgabe von Charkow", "vorgesehene Schrumpfung der Frontlinie" – so etwas stand dort drin ... Er hat uns diese Zeitung jeden Tag vorgelesen. Das hat er sehr gut und mit viel Geschick gemacht.
N.J. Das heißt, sie wussten bereits, was an der Front passiert?
G.S. Wir haben gewusst, haben genau gewusst, weil es diese Zeitung – "Völkischer Beobachter" – gab. Heute gibt es sie nicht mehr.
N.J. Aber es war nur deshalb, weil sie diesen Kumpel hatten....
G.S. Ja, er wohnte bei uns im Zimmer.
N.J. Aber offizielle Informationen für sie gab es nicht.
G.S. Ansonsten gab es keine offiziellen Informationen, so etwas gab es nicht. Es fanden keine Lehrgänge, keine Versammlungen, keine Arbeitskreise statt. Man schlief hauptsächlich aus.
N.J. Sonntag war also arbeitsfrei.
G.S. Das war ein arbeitsfreier Tag.
N.J. Gab es noch irgendwelche Feiertage, an denen nicht gearbeitet wurde.
G.S. Es gab auch Feiertage. 1942 haben wir zu Weihnachten zwei Wochen frei bekommen. Wir haben aus diesem Anlass mehr Verpflegung bekommen. Zu Feiertagen haben wir je zwei Brotlaibe und eine 500g-Packung Margarine bekommen. Dann haben wir noch Zucker erhalten – wie viel Gramm weiß ich jetzt nicht mehr. Aber 1942 ... seit Anfang 1943, nachdem die Deutschen eine Niederlage bei Stalingrad erlitten haben, wurden wir wesentlich strenger behandelt. Können Sie sich vorstellen, wie das Bewusstsein der [Deutschen] dadurch beeinflusst wurde? Es gab noch mehr Strenge, frei bekamen wir nur noch an Sonntagen und das auch nicht immer. Wir mussten arbeiten, arbeiten, arbeiten. Aber die meisten Sonntage waren frei.
Die Deutschen arbeiteten an Sonnabenden bis 2 Uhr und wir arbeiteten auch an Sonnabenden die volle 12-Stunden-Schicht.
Und ... Nun, laut Informationen von damals wurden zu der Zeit nach Deutschland 10 Millionen Ausländer, ausländischer Arbeiter gebracht. 2,5 Millionen von ihnen wurden aus der Ukraine hertransportiert. 2,5 Millionen Menschen! Die [Deutschen] brauchten sie, weil die ganze männliche deutsche Bevölkerung in die Armee eingezogen wurde. Die ganze männliche Bevölkerung. Damals standen in Deutschland 10 Millionen Menschen unter Waffen, verstehen Sie? Also musste jemand sie ersetzen. Und wir haben sie ersetzt. [...]
   
N.J. Und was haben Sie nach der Arbeit noch gemacht?
G.S. Nach der Arbeit? Na, einer erzählte Witze, der andere was anderes und der dritte noch was anderes. Einer erzählt, zum Beispiel, wie er zu Hause gelebt hat, was er arbeitete und wie er arbeitete - jeder eben seins. Wir haben Karten gespielt. Es gab [?] Karten. In jedem Zimmer gab es eigene Karten.
N.J. War es möglich, zum Beispiel, Wäsche zu waschen und Kleidung zu reparieren?
G.S. Ja, das war möglich. Es gab einen Waschraum...
N.J. Das war ein spezieller Raum?
G.S. Das war ein spezieller Raum. Dort gab es ein Rohr mit "Forsunki", man tippte sie an, daraus floss Wasser und man konnte sich waschen.
N.J. War das direkt in ihrer Baracke?
G.S. Nein, das war eine spezielle Baracke, sie war nicht besonders groß. Dort standen spezielle Behälter zum Waschen – Schüssel und so etwas. Da drin konnte man Wäsche waschen.
N.J. Gab es dort warmes Wasser?
G.S. Warmes Wasser gab es nicht. Man konnte das Wasser auf der Herdplatte in einem Eimer heiß machen. Ist das Wasser warm geworden, geht man damit zum Waschen.
N.J. Auf dem Ofen oder auf der Herdplatte?
G.S. Auf der Platte, auf dem Kanonenofen...
N.J. Ah, in der Baracke, im Zimmer ...
G.S. Heute wäscht einer, morgen der andere, und übermorgen der dritte.
N.J. Und wo wurde die Wäsche getrocknet?
G.S. Getrocknet? Wenn das Wetter gut war, dann wurde draußen getrocknet, wenn das Wetter schlecht war, wurde die [Wäsche] im Zimmer aufgehängt. So wurde das gemacht. [...]
   
N.J. Und Socken oder Fußlappen? Und wie sah es mit Schuhen aus?
G.S. Schuhe? Es wurden Schuhe mit drei Finger dicken Holzsohlen verteilt, mit Segeltuch oben drauf. Sie sahen ganz akkurat aus, aber es war sehr beschwerlich, in diesen Schuhen zu laufen. Dazu kam, dass die Straße von Brinckmannsdorf zum Bahnhof nicht asphaltiert, sondern mit Kopfstein gepflastert war. Es hat sich für die Außenstehende bestimmt so angehört, als ob da eine Pferdeherde läuft, das war ein ganz unangenehmes Geräusch. Was noch?
N.J. Und wie konnte man sich waschen? Wie sah damit aus?
G.S. Also Baden... Es war so... Im Lager gab es ein Bad mit Desinfektionskammer – mit Desinfektionskammer. Wir mussten zum Baden gehen und die ganze Kleidung in die Desinfektionskammer geben, damit sich dort kein [Ungeziefer] einnistet, dort herrschten hohe Temperaturen von 100° oder mehr Grad. Das Baden fand regelmäßig statt, es wurde nicht zugelassen, dass wir wie die Obdachlosen aussehen.
N.J. Und wie oft gab es Baden?
G.S. Wie oft? Ich habe es vergessen – entweder einmal die Woche oder alle zwei Wochen. Ich habe vergessen, wie es war. Aber es reichte, es reichte. [...]
   
N.J. Und die Luftangriffe 1942?
G.S. 1942, als wir am Hauptbahnhof ankamen und zu Fuß in das Lager Brinckmannsdorf laufen mussten, wurden wir durch eine Straße geführt.... Etwa 2 Tage vor unserer Ankunft gab es einen Luftangriff auf Rostock, und die Häuser auf beiden Seiten dieser Straße waren zerstört, Ziegelsteine und Beton lagen in Haufen herum. Der Rauch stieg auf, die [Trümmer] brannten immer noch und es gab einen unerträglichen Leichengestank, weil da drinnen Menschen geblieben waren, aber keiner, keiner suchte mehr nach ihnen. Sie sind dort geblieben ... Es wurde lediglich angeordnet, die Straße zu räumen, damit die Autos durchfahren können. Alles andere ringsherum wurde nicht angefasst – da hat keiner jemanden gesucht, sie sind alle dort drin geblieben. Der Gestank war nach einer Woche unerträglich, nach und nach verschwand er. [...]
   
N.J. Und hatten Sie eine Möglichkeit, Pakete zu empfangen oder Briefwechsel mit den Angehörigen in der Ukraine zu führen?
G.S. Ja, solche Möglichkeit gab es. Bis 1943 konnten wir "Postkarten" in die Heimat schicken. Es gab eine spezielle Postkarte mit Briefmarke drauf. Es gab damals in Deutschland nur eine Briefmarke – mit Hitlers Abbildung. Solche Postkarten gab es, man konnte ein, zwei, oder drei Postkarten im Monat verschicken – so viel wie du wolltest. Man konnte auch Päckchen empfangen, aber nur mit einem Gewicht von [höchstens] 200 g, es waren nur 200 g erlaubt. Man durfte zwar 10 oder 20 Päckchen erhalten, aber sie durften nur 200 g Gewicht haben.
N.J. Und was haben Sie bekommen? ...
G.S. Ich habe zwei Mal solche Päckchen bekommen, zwei Mal je 20 Päckchen ...
N.J. 2 Mal 20 Päckchen?!
G.S. Ein mal 20 und ein anderes Mal wieder 20, aber sie waren doch so klein. Das erste Mal hat meine Mutter mir Kekse geschickt, je 200 g, sie waren in Stoff eingenäht. Und auf jedem Päckchen war meine Adresse drauf: "Rostock, Brinckmannsdorf", Name, Vorname und Vatersname. Sie kamen bei mir an. Nachdem ich das erste Mal Päckchen bekommen habe, schrieb ich [meiner Mutter] nach Hause, dass sie mir in Zukunft keine solchen Päckchen mehr schicken soll, sondern Päckchen mit Tabak drin. Der Tabak hatte damals einen großen Wert: für drei Selbstgedrehte konnte man eine Brotration, 250 g, eintauschen. Und aus einem Päckchen mit 200 g Tabak konnte man 80-90 Zigaretten drehen – und das nur aus einem Päckchen. Verstehen Sie, was das bedeutete? Das war eine große Unterstützung. Und diejenigen, die das Brot eingetauscht haben, aßen natürlich zu wenig, hungerten, aber sie wollten rauchen. Ich habe damals nicht geraucht.
N.J. Und später?
G.S. Und auch später nicht. Na, vielleicht gelegentlich, heute rauche ich nicht. Damals habe ich nicht geraucht und später nur ab und zu, aber das zählt nicht, meiner Meinung nach. So eine Möglichkeit bestand bis September 1943. Dann wurde unser Territorium durch die Rote Armee befreit und es gab nichts mehr. [...]
   
N.J. Vielen Dank für Ihre Erzählung.
G.S. Vielen Dank. Ich bin Ihnen sehr dankbar – Ihnen und Herrn Thomas Werner für die Einladung und den freundlichen Empfang, für Ihre große Fürsorge uns gegenüber. Wir sind Ihnen sehr, sehr dankbar.
N.J. Vielen Dank!
G.S. Bitte!
^Top